Aus dem Vorwort des Herausgebers
Gemeinschaftliche Kunstprojekte sind oft das Resultat glücklicher
Zufälle und unwahrscheinlicher Begegnungen. So auch das vorliegen
de Projekt, in dem sich 18 Studenten der Ostkreuzschule für Fotogra
fie mit der Bötzow Brauerei auseinandergesetzt haben, einem histori
schen Gebäudekomplex im Nordosten Berlins.
Die Brauerei Julius Bötzow war einst die größte Privatbrauerei Ber
lins und Hoflieferant des Preußischen Königs. Ihr legendärer Biergar
ten bot 6.000 Menschen Platz; im Januar 1919 war er Schauplatz für
die Gründung von Karl Liebknechts Revolutionsausschuss. Nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde der Braubetrieb eingestellt. Zwischenzeit
lich bot das Gelände einer Lagerhalle, einem Kindergarten und meh
reren Clubs Obdach; größtenteils lag es brach.
2010 erwarb Prof. Hans Georg Näder, Inhaber des Medizintechnik
unternehmens Ottobock, die Brauerei. Er plante eine Mischnutzung:
Gewerberäume und Wohnungen neben Ateliers und einem Skulptu
renpark. Als Kunstsammler mit einer Vorliebe für zeitgenössische
Fotografie kam er auf die Idee, einen Wettbewerb auszuschreiben: Für
eine fotografische Auseinandersetzung mit Bötzow, bevor die Umbau
ten beginnen. Er erzählte dem Galeristen Rudolf Kicken von seinem
Plan, der ihm vorschlug, die Ostkreuzschule anzurufen.
Wir fanden das Projekt auf Anhieb spannend und außerdem gut ge
eignet, jeden unserer drei Schwerpunkte einzubeziehen: dokumenta
rische, künstlerische und journalistische Fotografie. Unter der Leitung
von Sebastian Lange, der ebenso großen Anteil an der Durchführung
des Projekts hat, und mir begannen 18 von uns ausgewählte Studen
ten im November 2011 mit der Arbeit „auf Bötzow“. Sie erhielten eine
ausgedehnte Führung und vier Monate lang freien Zugang zu den Ge
bäuden, rund um die Uhr. Einer der Fotografen nutzte dieses Angebot
besonders ausgiebig: Er verbrachte eine ganze Nacht im Keller der
Brauerei — das Wachpersonal hatte ihn versehentlich eingeschlossen.
Was Schwerpunkt und Gestaltung der Arbeiten anbelangt, wurde
den Fotografen völlige Freiheit gelassen. So sind auf ein und demsel
ben Gelände 18 sehr unterschiedliche Arbeiten entstanden. Einige
Fotografen machten sich auf Spurensuche und legten die verschiede
nen Schichten der in die Gebäude eingeschriebenen 150jährigen Ge
schichte frei. Andere setzten sich atmosphärisch oder architektonisch
mit den Räumen auseinander, ihrer Struktur, ihrer Patina, dem Licht
einfall. Wieder andere nutzten den Ort als Kulisse, um sich mit abs
trakteren Themen zu beschäftigen. Das Ergebnis ist beeindruckend
in der Verschiedenheit der Handschriften, der Kreativität der The
menfindung und der Gemeinsamkeit der Qualität.
Der Leerstand zentral gelegener Bauten und Plätze bei gelegentli
cher Zwischennutzung durch kreative Projekte ist seit der Wende ein
Charakteristikum unserer Stadt gewesen. In letzter Zeit gehen immer
mehr Brachgelände in eine professionelle Nutzung über. Insofern do
kumentieren die Arbeiten auch eine Ära, die sich ihrem Ende zuneigt.
Sie halten damit ein Stück Berliner Geschichte fest.
Werner Mahler