Aus dem Vorwort der Herausgeber:
Liebe Leser, ich lade Sie ein! Begleiten Sie mich auf einem Spaziergang in Gedanken und Bildern. Flanieren Sie mit mir durch meine Heimatstadt. Ich fühle mich in den gewachsenen Strukturen der alten Kulturlandschaft Eichsfeld mit meiner Familie, meinen Freunden und meinem Unternehmen Ottobock bestens aufgehoben und wünsche mir für Sie das Gleiche. Ausgangspunkt unserer kleinen Tour ist das Hotel zum Löwen, im historischen Zentrum Duderstadts gelegen. Alles, was wir auf diesen Seiten sehen werden, befindet sich im Umkreis von wenigen hundert Metern.
Ich habe das Hotel zum Löwen als Ausgangspunkt gewählt, weil es ein Haus mit langer Geschichte und einladender Atmosphäre ist. Hier fühle ich mich wohl. Dazu gehört es, mich mit den Dingen zu umgeben, die mir am Herzen liegen. Das sind zum einen die Zeugnisse der Geschichte, vom Fachwerk bis zum archäologischen Fundstück, zu betrachten in der kleinen Schausammlung hier im Haus. Zum anderen ist es die Kunst der Gegenwart, die ich seit gut zwei Jahrzehnten leidenschaftlich sammle.
Die Kunst hat mich gepackt - das kam fast unmerklich. Das Sammeln ist das Spiegelbild meiner eigenen Entwicklung. Wichtige Werke in meiner Sammlung stammen von starken Künstlerpersönlichkeiten wie Neo Rauch, Helmut Newton, Thomas Ruff oder Götz Diergarten - die Fotografie ist in den vergangenen Jahren ein wichtiger Impuls für mich gewesen.
Als Unternehmer, Sammler und Mäzen denke ich nicht nur global; ich möchte die große Kunst auch in unsere Region holen. Ich nehme Anteil - im Sinne einer gesellschaftlichen Verpflichtung - an der Arbeit meiner Angestellten wie »meiner« Künstler. Ihre Werke sind mir so wichtig, dass ich sie einem größeren Publikum zugänglich machen möchte. Dazu habe ich verschiedene Orte geschaffen, wie die Kunsthalle HGN hier in Duderstadt oder das Atelierhaus auf Bötzow Berlin, dem Gelände der historischen Bötzow-Brauerei. Und nun ist mit dem Hotel zum Löwen ein weiterer Ort hinzugekommen, an dem die Kunst - die Fotografie vor allem - zum Ereignis wird.
So ist der Pop-Art-Star Andy Warhol Dauergast im Löwen: Seine Polaroid-Porträts zeigen die Schönen und Reichen der 70er und 80er Jahre. Stille Stars der Fotografie sind dagegen Bernd und Hilla Becher. Sie haben mit ihrer eindringlichen Dokumentation von Industriebauten ein Stück Kulturgeschichte verewigt und zugleich große Konzeptkunst geschaffen. Ich finde mich wieder in der Heimatverbundenheit von Bernd Becher, zu dessen frühesten Aufnahmen die Siegerländer Fachwerkbauten in seiner heimischen Bergbauregion gehören.
Bechers Typologie der Fachwerkhäuser erinnert mich an meine Heimat, denn das Stadtbild von Duderstadt bestimmen hauptsächlich Fachwerkhäuser mit ihrem einzigartig geschlossenen Erscheinungsbild von weit über 500 Gebäuden. In diesem Sinne wollte ich ein besonderes Zeichen setzen und das Fachwerk zu einem künstlerischen Thema machen. Deshalb habe ich den Künstler Götz Diergarten anlässlich der Neugestaltung des Löwen eingeladen, seine Sicht auf unsere Stadt in Fotografien festzuhalten. Das Werk Diergartens nimmt in meiner Sammlung einen bedeutenden Platz ein. Mit fast allen Serien ist der Künstler, dessen Bildsprache vom Studium bei Bernd Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie geprägt wurde, vertreten: Die Fassaden und Typografien aus Deutschland, die französisch-belgischen Strandhäuser in Gouville und Knokke, die funktionale Architektur der englischen Seebäder oder die starkfarbigen, grafisch-geometrischen Ansichten europäischer U-Bahnhöfe der Serie METROpolis verdeutlichen mir sein Konzept, in unserer alltäglichen Umgebung Formen und Farben als fotografisches Bild neu zu entdecken. Damit öffnet er die Augen für die Schönheit der Wirklichkeit: Er gibt uns die Gelegenheit, auch tausendmal Gesehenes neu und anders zu betrachten. Auch im scheinbar Schlichten, gar Banalen, kann das Malerische und Abstrakte verborgen sein.
Einen frischen, unverbrauchten Blick auf die Schönheit meiner Heimatstadt, verdichtet zu einer ästhetischen Vision; das schafft Götz Diergarten in seinen Fotografien. Er befindet sich dabei in bester Gesellschaft. Ähnlich einem anderen Becher-Schüler, Thomas Struth, der 1991 Fotografien für eine Schweizer Privatklinik schuf, findet Diergarten bildliche Formulierungen, die im Wiedererkennbaren verankert sind und dennoch die Spuren des Gewohnten verlassen. Dabei ziehen sie sich niemals ins Unzugängliche zurück. Diergarten steht beispielhaft für eine zeitgenössische Generation von Fotografen, die im Dokumentarischen eigene künstlerische Wege findet.
Betrachten Sie mit mir die in immer anderen Farbnuancen gestalteten Fachwerkfassaden durch Diergartens Objektiv. Beachten Sie die meist dunkel abgesetzten Balkenkonstruktionen vor den zart oder kräftig getönten Fächern, den üppigen Fassadenschmuck: Kommen Sie mit zu den Fächerrosetten in die Apothekenstraße, achten Sie in der Haberstraße auf die unterschiedlich farbig abgesetzten Balken, oder in der Hinterstraße auf die Vielfalt an ornamentierten Schmuckbändern.
Verschiedenste Assoziationen kommen dem staunenden Flaneur auf den Seiten dieses Büchleins (und in den Straßen und Gassen der Altstadt) in den Sinn - sieht er dort nicht eine Flagge, einen Buchstaben oder das Kreuzsymbol im schmalen Bildausschnitt? Dann wieder treten Blüten, Ranken und Früchte, Kapitelle oder Köpfchen ungemein plastisch hervor. Ich selbst staune immer wieder über die vielen sprechenden Details, die ich in Diergartens Fotografien neu erlebe. Andererseits können wir vor den abstrakteren Farbflächen zur Ruhe kommen.
Diergarten selbst hat einmal gesagt, es gehe ihm um »eine gewisse Sehschule, um Wahrnehmungsverlangsamung und -sensibilisierung anhand dessen, was uns alle ständig umgibt« - diesen Anspruch hat er hier ideal eingelöst. Die Gäste des Hotels zum Löwen können sich täglich in ihren Zimmern und weiteren Gasträumen davon überzeugen.
Und der Künstler bietet uns noch eine weitere Bildlektüre von Duderstadts prächtigen Bürgerhäusern an. Er hat alte Postkarten mit Stadtansichten früherer Zeiten gesammelt. Sie sind »gelaufen«, d. h. versandt worden - auch aus dem Hotel zum Löwen! -, und haben das pittoreske Stadtbild in alle Welt verbreitet. Wir können nach Belieben wechseln zwischen dem Überblick einst und den behutsam bewahrten Architekturdetails jetzt, zwischen fern und nah, zwischen dem Ganzen und dem Ausschnitt.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Blättern, Entdecken, Staunen.
Herzlich,
Ihr Hans Georg Näder